Der Krug der alten Frau

Beim Retten von Märchen fiel mir ein altes französisches Märchen auf.
Zu einfältig, zu eindeutig. Wirklich? Der Dreh: Das Märchen für wahr nehmen! Es beschreibt die Gefühlskälte eines mächtigen Mannes, der sich am Leid anderer Menschen ergötzt. Kann so jemand heilen? Geht es darum in diesem Märchen? Könnte man den Text verheutigen?

Oh Weh! Mühelos.
Es ist alles da! Elend, die Lust am Leid anderer, Gleichgültigkeit, das Wegsehen. Lost in Märchenhaft!

 

Zum Vergleich habe ich eine Vorlage aus dem Netz drangehängt.

Der Krug der alten Frau


Herr Graf lebte in einer grundsanierten Jugendstilvilla.
Tagsüber fuhr er mit seinem schwarzen SUV ins Geschäftsviertel der Innenstadt, um Millionen zu bewegen. Er liebte es, Firmen auszuschlachten, Menschen zu entlassen, Arbeitsprozesse zu optimieren.
Gern brauste er lächelnd mit seinem Auto an Kindergärten vorbei, um Mütter zu erschrecken, die ihre Kinder dort abluden.
Wenn er Alte sah, die mit Rollatoren die Straßen überqueren wollten gab er Gas! Jeder gezeigte Mittelfinger war ihm Bestätigung seiner Kraft.
Nacht entspannte er sich dann damit, Pornographie zu konsumieren, deren Darsteller*innen so jung waren, das sein Genuss knapp an der gerade herrschenden Illegalität vorbei schrammte.
Er liebte es den schlecht verhohlenen Schmerz, den Ekel und die Tränen der Protagonist*innen zu sehen. Diese Speise mundete besonders köstlich.
Als er eines trüb nebligen Herbstmorgens wieder einmal in die Tiefgarage seines Bürohauses einkurvte, erblickte er eine Alte, deren Einkaufstüte geplatzt war. Sie kroch auf den Knien in der Einfahrt herum um ein paar Äpfel  auf zu klauben. Mit einer Hand presste sie ein volles Glas Gurken an die Brust und schluchzte leise. Er lachte herzlich und hupte dreimal. Vor Schreck fiel der Alten das Gurkenglas aus der Hand. Auf ihrem verwelkten Gesicht kreuzten sich Falten, Spuren von Alter, Kummer und Elend. Wieder musste Graf grinsen. Er stieg aus. Sie richtete ihre halblinden Augen zu ihm auf. „Bitte helft mir!“
Sie versperrte ihm seinen Weg, er stieß sie zur Seite. Sie verlor ihr Gleichgewicht, stürzte und ihr Blut mischte sich mit den Scherben des Gurkenglases.
Aber o Wunder! Auf einmal hing ihm genau so ein Glas leer am Hals. Eine Stimme donnerte in sein Ohr: „Unseliger, du wirst erst dann Ruhe finden, wenn dieses Glas voll ist!“
Graf taumelte zu seinem Wagen und stieg ein. Die Tür fiel zu und sämtliche Warntöne des Wagens begannen zu fiepen. Gleichzeitig begannen alle Dioden arrhythmisch zu blinken und die Frontscheibe seines viel zu großen Wagens zersprang! Ein Windstoß fuhr durch den SUV und dann fuhr das Auto rückwärts zurück auf die Straße. Ein Hupkonzert hob an. Mit gewaltigem Dröhnen beschleunigte das Gefährt und eine wilde Jagd begann. Er raste aus der Stadt, dem Horizont entgegen, ohne Ziel und Ende, ohne Rast und Ruh. Er fuhr jahrelang, durchquerte Flüsse und Bäche, fuhr am Meer durch Prile hindurch, erlebte Regen und Wolkenbrüche, aber das Glas an seinem Hals ließ sich nicht füllen. Es blieb immer trocken und leer. Da ergab sich der unglückselige Fahrer in sein Schicksal. Wochen, Monate, Jahre verstrichen. Ebenen, Berge, Täler zogen vorbei. Die Sonne brannte, Regen prasselte, Schnee und Wind peitschte.
Vor Herrn Graf breitete sich die weite Welt aus.
Er sah allmählich, wie sich die Armen abmühten, die Pflückerinnen auf den Spargel- und Erdbeerfeldern, die Fremden auf dem Bau, die People of colour an den Hintereingängen der Restaurants. Er sah die Lohnarbeiter*innen zu ihren Schichten laufen, die ununterscheidbaren, gesichtslosen Angestellten in ihren Kostümen und Anzügen in die Geschäftsviertel migrieren. Er fuhr durch verlassene Weiler und heruntergekommene Dörfer, in den Zentren der Dörfer sah er die Häuser der Akkordfremdarbeiter der Schlachthöfe. Er sah aufgelassene Atomkraftwerke. Er sah Bestattungen und Hochzeiten, Tulpenfelder und das Meer. Er durchquerte Wälder und überwand Berge, folgte Flüssen und streifte Felder. Und langsam begann die Vielfalt der Welt an seine Seele zu rühren. Und er bemerkte das Böse der Menschen, sah Kriege, Armeen, die Ernten zerstörten und Kindergärten besiegten. Er sah aufgelassene Industriebrachen, verminte Heiden und siechende Verwundete. Frauen, Männer und Kinder weinten vor Entsetzen. Flüchtende in Booten streckten verzweifelt ihre Arme aus, aber niemand zog sie aus dem Wasser. Wale warfen sich an die Strände und verendeten. Er sah, wie der Starke die Schwachen niederschlug.
Über die Jahre und die Bilder wurde sein Herz weicher und offener. Manchmal wollte er anhalten und helfen.
Doch das schwarze Gefährt fuhr unaufhaltsam weiter.
Einmal fuhr er durch ein Städtchen. Vor einem Supermarkt sah er eine alte Frau, die einen großen Sack mit Pfandflaschen in den Markt tragen wollte. Der Sack zerriss und die Alte begann sich hilflos umzusehen. Sie erblickte das langsam an ihr vorbeifahrende Auto.
„Erbarmen Herr, helft mir!“
Da wollte er gerne helfen. Mit aller Kraft trat er die Bremse, der Wagen startete durch, beschleunigte. Da senkte der immerwährende SUV Fahrer sein Haupt. Aus seinen Augen rannen Tränen, das erste Mal in seinem Leben. Sie fielen alle in das leere Gurkenglas um seinen Hals.

Und siehe, das Auto blieb stehen.

Das Glas war voll.

Nacherzählt von Jörn-Uwe Wulf nach einem alten französischen Märchen

aus: Der Verschleierte; Märchen von Ketzern und Verfemten; Hg. Marlies Hörger


Der Krug der alten Frau - Alte Fassung

Einst lebte in einem Schloss ein böser Graf. Tagsüber tötete er die Hirsche in den Wäldern. Des Nachts schlief er erst ein, wenn er sich zuvor die Gefangenen in seinem Kerker angeschaut hatte. Ihre Seufzer und ihre Gebete machten ihm Vergnügen. Traf er auf seinen Ausritten auf ein Tier, so schlug er es. Stieß er auf einen Wanderer, so misshandelte er ihn. Wenn er sich von weitem einem Dorfe näherte, so flohen alle Menschen in ihre Häuser. Mütter brachten ihre kleinen Kinder eilends vor ihm in Sicherheit.
An einem trüben und nebligen Herbsttag ritt er allein zwischen den zur Hälfte entlaubten Bäumen hindurch, die den Weg säumten, auf seinem hohen, schwarzen Ross. Er kam an eine Quelle. Dort sah er, wie eine alte Frau vergeblich versuchte, einen gefüllten Krug mit sich zu schleppen. Sie war sehr arm, denn sie war in Lumpen gehüllt, und sie war sehr schwach, denn ihre mageren Hände hielten zitternd den Henkel umklammert. Sie sah mitleiderregend aus. Auf ihrem verwelkten Gesicht kreuzten sich die Falten, Spuren von Alter, Kummer und Elend. Sie richtete ihre fast erblindeten Augen zu ihm auf und flehte ihn mit schwacher Stimme an: »Habt Erbarmen, Herr. Helft mir!«
Er aber lachte nur höhnisch, und weil sie sich auf seinem Grund und Boden aufhielt, gab er ihr mit dem Stiefel einen solchen Stoß vor die Brust, dass die Ärmste mit einem Schrei in die Scherben des Kruges stürzte und das Wasser sich mit ihrem Blut vermischt über den Boden ergoss. Aber o Wunder. Plötzlich hing der Krug am Hals des Bösewichts, und eine donnernde Stimme dröhnte ihm ins Ohr: »Unseliger, erst dann wirst du zur Ruhe kommen, wenn dieser Krug voll sein wird!«
Da hob ein schreckliches Pfeifen und Tosen an. Die Bäume krümmten sich, und die Raben krächzten schaurig. Das Pferd wieherte rasend und erhob sich mit der Mähne im Wind. Es galoppierte dem Horizont entgegen. Und das war ein Ritt ohne Ziel und Ende, ohne Rast und Ruh. Er konnte tun und machen, was er wollte: Kein Regen und kein Wolkenbruch, kein Bach und kein Fluss, kein Teich und kein See und auch kein Meer konnten den Krug füllen. Er blieb immer trocken und leer. Da ergab sich der unglückselige Reiter in sein Schicksal. Wochen, Monate und Jahre verstrichen auf diese Weise.
An den Augen des Reiters zogen Ebenen, Berge und Täler vorbei. Die Sonne brannte ihm aufs Haupt, der Regen prasselte ihm ins Gesicht, Schnee und Wind peitschten ihn. Vor ihm breitete sich die weite Welt aus.
Er sah, wie sich das arme Volk abmühte, sah die Leute die Ackerfurchen bearbeiten, das Leinen weben, das Holz hacken, das Ruder führen, die Kelle heben und den Hammer schwingen. Er sah die Adeligen mit glänzenden stählernen Rüstungen und bunten Bannern spazierenreiten. Er sah Hochzeiten, wo gesungen, und Begräbnisse, wo geweint wurde. Dicht an Kirchen kam er vorbei, aus denen Musik ertönte, an summenden Städten gleich Bienenkörben, an friedlichen Dörfern, wo der Rauch aus den Strohhütten stieg, an Bäumen, die im Frühling blühten und im Herbst wie im Gold dastanden. An der Steilküste ritt er entlang, von wo aus er Schiffe auf dem herrlichen Meer sah, und am Fuße hoher Berge, die mit einem Diadem aus Gletschereis gekrönt waren. Und langsam, nach und nach rührte die Vielfalt und Schönheit dieser Welt auch an die Seele dieses Rohlings.
 Aber er erkannte auch, dass es die Bosheit des Menschen war, die das Werk des Schöpfers zerstörte. Er sah, wie Kriegsheere die Ernten vernichteten und das klare Wasser der Flüsse rot färbten mit Blut. Er sah herrliche Kirchen zusammenstürzen, sah die Verwüstung blühender Städte mit fleißigen Bewohnern, sah freundliche Ortschaften brennen. Er sah, wie der Starke den Schwachen niederschlug, sah, wie die Schwachen hilflos ihre tränenerfüllten Augen zum Himmel hoben. Dicht vor ihm schrien alte Männer um Hilfe, Frauen streckten verzweifelt ihre Arme aus, Kinder weinten mitten in dem Entsetzen. Als sein Herz mit der Zeit immer weicher geworden war, da hätte er gerne sein Schwert gezogen, um die Leidenden zu schützen und ihre Peiniger zu vertreiben. Aber das schwarze Ross galoppierte unaufhaltsam weiter.
Eines Tages kam er an einen von Bäumen gesäumten Weg. Die Bäume waren schon halb entlaubt, da bald der Winter nahte. Bei einer Quelle versuchte eine alte Frau einen Krug Wasser mit sich zu schleppen, aber es gelang ihr nicht. Der Krug war zu schwer. Sie war in Lumpen gehüllt, zerbrechlich und zittrig, mitleiderregend anzusehen.
Als sie das schwarze Pferd gewahr wurde, flehte sie den Reiter mit ihren halbblinden Augen und schwacher Stimme an: »Habt Erbarmen, Herr! Helft mir!«
Da wollte er gerne helfen. Sie war so traurig, so alt und so zerbrechlich. Mit all seiner Kraft drückte er seine Knie in die Weichen des Rappen, um ihn zum Stehen zu bringen, er straffte gewaltig die Zügel, um dem wilden Galopp Einhalt zu gebieten. Er redete auf das Tier ein, er bat es inständig. Nichts von alledem half. Da senkte der Unglückliche hilflos und verzweifelt das Haupt. Aus seinen Augen liefen Tränen, die ersten, die er je in seinem Leben vergossen hatte, und sie alle fielen in den Krug, der an seinem Halse hing. Und siehe, das Pferd blieb stehen. Der Krug war voll.

 

Märchen aus Südfrankreich
Altfranzösisch auch in: Der Verschleierte; Märchen von Ketzern und Verfemten, Hg. Marlies Hörger