Dornrose

Im Zusammenhang mit Vorarbeiten zur Veranstaltung "Gute Nacht, träum queer!" des MARKK in Hamburg begann ich erstmals über queere Märchen nachzudenken.

Ich kenne kaum Geschichten, die Queerness thematisieren.

 

Geschlechterrollen werden in Märchen oft unhinterfragt gesprochen. Doch...

 

Als junger Vater und Erzähler habe ich meinen Kindern Dornröschen  erzählt. Mein fünfjähriger Sohn wollte dann immer zum Abschluß geküsst werden. Das er in diesem Moment eigentlich Dörnröschen, die Prinzessin "war", schien nicht wichtig zu sein.

Rollenzuschreibungen im Märchen verhindern nicht die Identifikation mit Märchengestalten.

Unsere Vorstellungskraft kann das.

Aber wenn es sich eine Erzählung manchmal doch wie eine Prägung auswirkt?

Du bist der Junge und aktiv, du bist das Mädchen und ein Neutrum über das verfügt wird, und es gibt nur diese zwei Möglichkeiten und Liebe ist nur in Gegensätzen f/m möglich

Hier spiele ich es mal durch.

Ich will Dörnröschen offen und ohne Menschen auszuschließen erzählen.

 

Ich gehe davon aus, dass sexuelle und Geschlechtsidentität nicht die wichtigsten Themen dieses Märchens sind.

 

Dornrose hat das Reifen von Menschen zum Thema, das Erwachen in einem neuen Zustand.

 

Es ist möglich, den Zauber von Dornröschen zu erhalten,

vielleicht sogar zu verstärken und Menschen jedweder geschlechtlichen Identität einzubeziehen.

 

Dornrose


Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag „ach, wenn wir doch ein Kind hätten!“ und kriegten immer keins. Da trug sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, daß ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach, „dein Wunsch wird erfüllt werden, ehe ein Jahr vergeht, wirst du ein Kind  zur Welt bringen.“
Was der Frosch gesagt hatte, das geschah, und die Königin gebar ein Menschlein, das war so schön, daß der König vor Freude sich nicht zu lassen wußte und ein großes Fest anstellte. Er ladete nicht bloss seine Freunde, Verwandte und Bekannten ein, sondern auch die weisen Frauen, damit sie dem Kind hold und gewogen wären. Es waren ihrer dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, so mußte eine von ihnen daheim bleiben. Das Fest ward mit aller Pracht gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichtum, und so mit allem, was auf der Welt zu wünschen ist. Als Elfe ihre Sprüche eben getan hatten, trat plötzlich die Dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, daß sie nicht eingeladen war, und ohne jemand zu grüßen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme „Euer Kind soll sich in seinem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen.“ Und ohne ein Wort weiter zu sprechen kehrte sie sich um und verließ den Saal. Alle waren erschrocken, da trat die Zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch übrig hatte und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern nur ihn mildern konnte, so sagte sie „es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf.“
Der König, der sein Kleines vor dem Unglück gern bewahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen Königreiche sollten verbrannt werden. An dem Kind aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt, denn es war so schön, sittsam, freundlich und verständig, daß es jedermann, der es ansah, lieb haben mußte. Es geschah, daß an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahr ward, der König und die Königin nicht zu Haus waren, und das Kind ganz allein im Schloß zurückblieb. Da ging es aller Orten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf, und gelangte zu einer kleinen Türe. In dem Schloß steckte ein verrosteter Schlüssel, und als es umdrehte, sprang die Türe auf, und saß da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel und spann emsig ihren Flachs. „Guten Tag, du altes Mütterchen,“ sprach es, „was machst du da?“ „Ich spinne,“ sagte die Alte und nickte mit dem Kopf. „Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?“ sprach es, nahm die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte es aber die Spindel angerührt, so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und es stach sich damit in den Finger.
In dem Augenblick aber, wo es den Stich empfand, fiel es auf das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf. Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloß: der König und die Königin, die eben heim gekommen waren und in den Saal getreten waren, fingen an einzuschlafen, und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und die Köchin, die den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, in den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloß regte sich kein Blättchen mehr.
Rings um das Schloß aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward, und endlich das ganze Schloß umzog, und darüber hinaus wuchs, daß gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf dem Dach. Es ging aber die Sage in dem Land von dem schönen schlafenden Dornröschen, denn so ward das Kind genannt, also daß von Zeit zu Zeit andere Königskinder kamen und durch die Hecke in das Schloß dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich, denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die jungen Leute blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder los machen und starben eines jämmerlichen Todes. Nach langen, langen Jahren kam wieder einmal ein Königskind  in das Land, und hörte wie ein alter Mann von der Dornhecke erzählte, es sollte ein Schloß dahinter stehen, in welchem ein wunderschönes Königskind, Dornröschen genannt, schon seit hundert Jahren schliefe, und da schliefen auch der König und die Königin und der ganze Hofstaat. Er wußte auch von seinem Großvater, daß schon viele Königskinder gekommen wären und versucht hätten durch die Dornenhecke zu dringen, aber sie wären darin hängen geblieben und eines traurigen Todes gestorben. Da sprach das Wache, "Ich fürchte mich nicht, ich will hinaus und das schöne Dornröschen sehen.“ Der gute Alte mochte ihm abraten, wie er wollte, es hörte nicht auf seine Worte.
Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als sich das junge Wesen der Dornenhecke näherte, waren es lauter große schöne Blumen, die taten sich von selbst auseinander und ließen es unbeschädigt hindurch, und hinter ihm taten sie sich wieder als eine Hecke zusammen. Im Schloßhof sah es die Pferde und scheckigen Jagdhunde liegen und schlafen, auf dem Dache saßen die Tauben und hatten das Köpfchen unter den Flügel gesteckt. Und als es ins Haus kam, schliefen die Fliegen an der Wand, die Köchin in der Küche hielt noch die Hand, als wollte sie den Jungen anpacken, und die Magd saß vor dem schwarzen Huhn, das sollte gerupft werden. Da ging es weiter, und sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und oben bei dem Throne lagen die Königin und der König. Da ging es noch weiter, und alles war so still, daß eines seinen Atem hören konnte, und endlich kam es zu dem Turm und öffnete die Türe zu der kleinen Stube, in welcher Dornröschen schlief. Da lag es und war so schön. Das Königskind konnte seine Augen nicht abwenden, bückte sich und gab ihm einen Kuß. Wie ihre Lippen einander berührt hatten, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte, und sie blickten einander ganz freundlich an. Da gingen sie zusammen herab, und der König erwachte und die Königin, und der ganze Hofstaat, und sahen einander mit großen Augen an. Und die Pferde im Hof standen auf und rüttelten sich: die Jagdhunde sprangen und wedelten: die Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen umher und flogen ins Feld: die Fliegen an den Wänden krochen weiter: das Feuer in der Küche erhob sich, flackerte: und kochte das Essen: der Braten fing wieder an zu brutzeln: und die Köchin gab dem Jungen eine Ohrfeige daß er schrie: und die Magd rupfte das Huhn fertig. Und da wurde die Hochzeit der beiden Königskinder in aller Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende.


Was ich geändert habe (im Text invers gestellt):
Die Königin bekommt ein Kind.

Es bleibt unbestimmt und ungenannt, welches Geschlecht es hat. Fragt ein Kind, das zuhört, können wir zurückfragen und bekommen eine Botschaft von ihm.

Das macht das Märchen Dornrose flirrender und unbestimmter. Es ist hier nicht mehr wichtig, welches Geschlecht die Charaktere haben. Gewicht hat hier das Abenteuer einzuschlafen und aufzuwachen als ein Anderes. Dann geht es darum sich selbst zu erkennen, sich gegenseitig zu erkennen, einander zu begehren,  einander zu lieben.


Bezogen auf die Festlegung der Geschlechter sterben in der Dornenhecke nicht Königssöhne, sondern Königskinder. Auch sterben müssen alle Menschen.

Ab hier kanns queer! Es bleibt offen, wer sich wie identifiziert oder zuordnet. Alles sind Menschen, jedes macht seine Erfahrungen.


Dornrose beschreibt ein Einschlafen und ein Erwachen.
Die Dornenhecke ist ein spitziger Schutzwall und beschreibt die Reifezeit zum Erwachsensein. Wie immer diese Reifung für das einzelne Mensch aussieht, es sticht in dieser Übergangszeit und man kann eigentlich wenig dagegen machen.
Die Hecke schützt durch ihre Stacheln, schreckt ab und mit den Blüten wirkt sie gleichzeitig anziehend, duftig und ist zur Unzeit durchquert, tödlich, verletzend (was viele von uns in dieser Übergangszeit vielleicht bemerkt haben).
Erst im richtigen Moment soll die Hecke sich öffnen, dann wenn sie blüht.

Das kann

ein geschlechtliches Erwachen sein (Identität, meine ich),

ein sexuelles Erwachen (Begehren, meine ich),

ein partnerfindendes Erwachen (Offen werden für einen anderen Menschen, meine ich)

ein spirituelles Erwachen (sich selbst in Anderen erkennen, meine ich)

 

Das Märchen bietet bestimmt noch viel mehr Möglichkeiten zur Betrachtung.
Vielleicht schreibt Ihr?

Viel Freude beim Nachdenken!

Jörn-Uwe

Die Fassung, die ich verändert habe, findet ihr hier:

https://de.wikisource.org/wiki/Dornr%C3%B6schen_(1857)
(Ich habe auch noch, so wie ich es verstehe, die Orthographie angepasst:
Turm statt Thurm, Tür statt Thür etc.und ein paar wenige Straffungen vorgenommen.)