Das Opfer

 

 

 

Das Telefon klingelte. Die alte Dame schon ein Jahr im Coronalockdown, lächelte. Vielleicht ihre Tochter?

Eine junge Männerstimme.

 

"Hallo?"

"Ich bins, der Michel aus Hamburg."

 

Die alte Dame fand das lustig und ein wenig albern. Aber sie hatte in 85 Lebensjahren schon soviel gehört.

 

"Was wollen sie ?"

"Warum rufen sie mich immer an?"

 

Sie war sich sicher keinen Michel zu kennen, Hamburg allerdings, ihr Sohn lebte da mit seiner Frau. Aber das ist nicht seine Stimme.

 

"Was wollen Sie?"

"Sie sollen mich nicht mehr anrufen."

 

Etwas unsicher antwortete sie:

 

"Ich kenne keinen Michel."

"Aber warum rufen sie mich immer an?"

 

Sie war sich in vielem nicht mehr so sicher wie früher, als sie noch eine Behörde leitete, aber das wusste sie  genau, einen Michel hatte sie nicht angerufen, die Kombination Michel und Hamburg war zu bescheuert, die hätte sie erinnert.

 

"Aber ich habe sie nicht angerufen, ich kenne sie nicht!"

 

Eine ihrer großen Ängste war dement zu werden. Noch einmal überprüfte sie ihre Erinnerungen. Sie hatte tausende Menschen im Laufe ihre Karriere unterrichtet, angeleitet, geführt, beraten. Keinen Michel aus Hamburg.

 

"Sie müssen sich irren, ich habe sie nicht angerufen."

"Und warum habe ich dann ihre Nummer auf dem Display?"

 

Wieder wurde sie unsicher. Auch wenn sie die Anfänge der Bürocomputer miterlebt und bei ihren MitarbeiterInnen unterstützt hatte, sie selber blieb im Herzen Generation Schreibmaschine.

 

"Dann muss da ein Fehler vorliegen."

"Nein, immer wieder rufst Du mich an!"

 

Jetzt waren wir also schon beim Du. Die Reflexe der Altmächtigen sprangen wie gewohnt an. So etwas registrierte sie seit 75 Jahren automatisch. Doch noch einmal wurde sie milde. Diese Stimme, ihr Sohn vielleicht? Die Stimme war zu jung, aber ähnlich war sie und in letzter Zeit traute sie ihren Ohren manchmal nicht so recht. Vielleicht macht sich ihr Sohn einen Scherz? Sie lächelte. Oder der Enkel, auch schon dreißig? Sie klopfte die Namen ab.

Aber jetzt wurde der Anrufer fordernder.

 

"Hör auf damit, ich will das nicht!"

 

schimpfte er sie aus und löste damit ohne es zu wissen einen uralten, vielfach bewährten Überlebensmechanismus in ihr aus. Die alte Drachin erhob ihr Haupt.

 

"Aber ich mag dich doch so gern!"

"Wie bitte?"

 

"Ich kann nicht anders und muss immer zu an dich denken."

"Was?"

 

"Ich ruf ja immer nur an, weil ich Dich so brauche."

"Lass das!" Die Stimme des Angreifers wurde höher und er atmete kürzer.

 

"Immer sehne ich mich nach deiner süßen Stimme und freue mich so, wenn ich dich mal wieder genießen kann."

"Du sollst mich nicht mehr anrufen!" Der Anrufer schnappt nach Luft.

 

Sie merkt nun, wie einfältig das Gegenüber spielt.

 

"Und weil ich ja deine Nummer habe kann ich nun gar nicht mehr aufhören, dich anzurufen. Wie schön, dass es dich gibt!"

 

Der Anrufer weiß nicht weiter, seine Energie verpufft.

Geschlagen, unwirsch, unbefriedigt legt er auf.

 



Welche das Fett ihrer Opfer aßen ..., laßt sie aufstehen und euch helfen und euch schützen!

5.Mose 32:38