Auf dem Friedhof Ohlsdorf entdeckte ich
neulich ein Gräberfeld auf dessen Grabsteinen ich ganze Reihen von Namen wiedererkannte.
Es war, als wenn ich nach langer Reise in mein Heimatdorf zurückkäme und dort auf einem kleinen Kirchhof lauter Nachbarn wiedererinnerte.
Ich schlenderte zwischen den Grabsteinen entlang und langverwehte Gefühle trieben in mir auf.
Vor vierzig Jahren begann ich in den Alsterdorfer Anstalten ein Praktikum als Pfleger.
Ungelernt verschlug es mich in eine Männergruppe. Haus Gottesschutz. Um die achtzehn Bewohner in sieben, acht Räumen.
Zu zweit, zu dritt, zu acht, einer mit dem Privileg Einzelzimmer.
Der nicht entnazifizierte, trinkende, Abteilungsleiter war gerade in Ruhestand gegangen.
Zu Weihnachten, erfuhr ich in den ersten Tagen, gab es für alle die gleichen Geschenke.
Jetzt verstand ich die senfgelben Tagesdecken und die Nachtischlampen mit messingfarbenem Kugelschirm, die man nur außen antupfen musste um sie auszuschalten.
Die Gruppe dampfte noch vom strengen Angstregime einiger Bewohner.
Alles im Umbruch, die Anstalt begann einen Umwandlungsprozess, der bis heute andauert und die dort Lebenden und Arbeitenden tiefgreifend veränderte.
Horst J. lebte in einem Dreierzimmer. Schwer körperlich eingeschränkt durch eine spastische Lähmung war es ihm möglich, seinen Kopf zu drehen, den rechten Arm zu bewegen und mit einem sogenannten Pinzettengriff seines Daumens und Zeigefingers einen mit Krepppapier umwickelten Löffel zum Mund zu führen. Ich konnte ihn schlecht verstehen hatte aber das Gefühl, dass er jedes meiner Worte aufnahm. Er war geduldig, wenn er etwas mitteilen wollte. Er wollte genau verstanden werden und setzte manchmal einen anderen Bewohner als Dolmetscher ein. Er wurde in einem nicht angepassten Rollstuhl bewegt. Vor der Machtergreifung der Nazis nahmen ihn seine Brüder im Bollerwagen überall hin mit. Erst danach „wurde er aus der Familie genommen“.
Es ging die Legende, dass er in der Nazizeit in ein Vernichtungslager hätte gebracht werden sollen, aber er konnte „durch ein ausgeklügeltes Verschiebesystem von einem Heim zum nächsten“ vor der Ermordung bewahrt werden. Horst war bewusst, dass er hatte getötet werden sollen und er verfolgte das Geschehen der Welt durchs Fernsehen und gebrochen durch die lange Reihe von Pflegenden, die jahrzehntelang durch seine Wohnstatt fluteten.
Und dann – ungefähr mit sechzig, fünfundsechzig Jahren – wurde ihm eine Schale für seinen Rollstuhl angepasst. Wie eine Erdnussschale die Nuss umhüllte ihn jetzt eine Struktur. Die neue Schale bahnte seine unwillkürlichen gelegentlichen Zuckungen. Der alte Rollstuhl passte nicht mehr. Mit dem neuen schwereren, unförmigen Rollstuhl hatten wir Pfleger*innen Schwierigkeiten, das Rangieren haben wir lernen müssen.
Und – wieder ein Jahr später – bekam er einen E-Rollstuhl, mit einem Joystick, gebaut mit einer Steuermöglichkeit für eine seiner wenigen von ihm kontrollierten Bewegungsvarianten.
Ab diesem Tag sprangen die Pfleger*innen. ER kam!
Viele Male klemmte er sich selbst ein, stieß sich an Türkanten blaue Flecken. Er brauchte eine Art umlaufender Stoßstange. Weitere Anpassungen folgten. Schließlich bewegte er sich mit einer Art riesigem Jahrmarktscooter zu allen Tages- und vielen Abendzeiten erst im Haus und schnell außerhäusig fort. Horst J. fuhr immer besser. Selbstbewusster, selbstverständlicher, fröhlich.
Wenn ich heute darüber nachdenke - es war ungeheuerlich. Horst J. wurde
· Fünfundsechzig Jahre passiv bewegt, hat
· Todesangst ausgestanden als Jugendlicher und
· überlebte Jahrzehnte in einer halb geschlossenen, spießigen, miefigen Männerwelt.
· Lernmöglichkeiten, Entwicklungschancen, Anregungen – karg.
Was für Hirnkapazität muss jemand fünfundsechzig Jahre lang vorhalten um dann so frohgemut ins Draussenleben zu kurven?
Beherrschen eines völlig neuen Systems. Entdeckerfreude entfesselt - und Lebenslust genießen.
Ich nenne es für mich den Jarecki – Effekt.
Um 1980 rum entdeckten wir Pfleger*innen an einer neu angebrachten Tafel zum Gedenken an die Ermordeten des NS Regimes seinen Namen.
Die Buchhalter hatten Horst falsch verbucht.
Er lebte - und wie!
„“ sind von einem ehemaligen Kollegen, den ich zur Verifizierung der sachlichen Richtigkeit hinzuzog.